Spazierengehen – kaum eine andere Aktivität ist so allgegenwärtig und gleichzeitig so unterschätzt. Während viele in ihrer Fitnessroutine auf HIIT oder Gewichtheben schwören, führen Spaziergänge eher ein Schattendasein. Doch wer sich eingehender mit den gesundheitlichen Effekten beschäftigt, erkennt schnell: Der einfache Spaziergang hat es in sich – körperlich, psychisch und sogar sozial. Dieses unterschätzte Bewegungsformat verdient einen zweiten Blick.
Warum „nur“ Gehen eine enorme Wirkung hat
Viele verbinden Bewegung automatisch mit Schweiß, Leistung und Zeitaufwand. Spazierengehen wirkt dagegen geradezu banal. Tatsächlich handelt es sich aber um eine der ältesten Bewegungsformen des Menschen – und genau das macht sie so wertvoll.
Mehrere Studien belegen die breite Wirkung regelmäßiger Spaziergänge. Eine Meta-Analyse der Universität Harvard (2015) zeigt, dass tägliches Gehen das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen um bis zu 31 % senken kann. Auch der Blutdruck reguliert sich oft schon nach wenigen Wochen regelmäßiger Bewegung. Besonders interessant dabei: Die maximale Wirkung wurde bei einem Pensum von etwa 30 bis 45 Minuten Gehen pro Tag erzielt – kein Marathon nötig.
Gehen wirkt wie ein psychischer Reset
Aus meiner Zeit als Pflegefachmann erinnere ich mich gut an eine Patientin mit chronischen Angststörungen. Keine Therapie hat langfristig gegriffen. Doch sie begann – zunächst skeptisch – mit einem täglichen 20-Minuten-Spaziergang. Anfangs nur am Waldrand, später auch durch die Stadt. Nach drei Monaten konnte sie zum ersten Mal seit Jahren den Bus nehmen, ohne Panik. Kein Wunder: Spaziergänge senken nachweislich den Cortisolspiegel (Stresshormon) und fördern die Ausschüttung von Endorphinen, Serotonin und Dopamin – also genau jener Neurotransmitter, deren Mangel häufig bei Depressionen und Angststörungen zu beobachten ist.
Eine 2020 veröffentlichte Untersuchung der Universität Stanford brachte einen weiteren Aspekt ins Spiel: Bereits 60 Minuten Gehen in der Natur pro Woche reichen aus, um die Aktivität der präfrontalen Hirnrinde – verantwortlich für Grübeln – deutlich zu senken. Sobald man also regelmäßig die Füße bewegt, bewegt sich auch etwas im Kopf.
Alltagsfreundlich und niedrigschwellig
Im Gegensatz zu vielen Sportarten benötigt man für einen Spaziergang keine Ausrüstung, keine Vorbereitung und kein spezielles Umfeld. Das macht Gehen besonders attraktiv für ältere Menschen, Berufstätige oder alle, die Bewegung (noch) nicht in ihren Alltag integriert haben.
Keine Zeit? Ein kurzer Spaziergang in der Mittagspause, 10 Minuten Telefonieren im Gehen oder eine Haltestelle früher aussteigen – bereits solche kleinen Anpassungen summieren sich. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) reichen 150 Minuten moderate Bewegung pro Woche, um gesund zu bleiben. Das entspricht lediglich fünf Spaziergängen à 30 Minuten.
Positive Effekte auf den Stoffwechsel
Auch für Menschen mit Prädiabetes oder Insulinresistenz kann Gehen ein echter Gamechanger sein. Neue Forschung aus Japan zeigt, dass bereits kurze Spaziergänge nach den Mahlzeiten die Blutzuckerkurve deutlich abflachen können. Ein 15-Minuten-Spaziergang nach dem Essen wirkt besser als 45 Minuten Sport zu irgendeinem anderen Zeitpunkt am Tag. Der Grund: Durch das Gehen nach dem Essen wird Glukose direkt aus dem Blut in die arbeitenden Muskeln aufgenommen – ohne Umwege.
Ich erinnere mich an einen Diabetiker auf meiner Station, der nach Jahren zum ersten Mal seinen Langzeitzucker verbessern konnte – nicht durch Medikamente, sondern durch den simplen Trick, nach jeder Mahlzeit noch einen Spaziergang ins Programm aufzunehmen. Seine Insulindosis wurde halbiert. Muss man mehr sagen?
Spazieren fördert soziale Bindungen
Gehen ist erstaunlich kommunikativ. Wer schon einmal einen Spaziergang zu zweit gemacht hat, weiß: Gespräche fließen leichter. Der gemeinsame Blick nach vorne, der gleichmäßige Rhythmus und die unaufdringliche Atmosphäre senken soziale Hemmungen. Das gilt nicht nur für Freunde – auch schwierige Familiengespräche oder Elterngespräche profitieren oft davon, wenn sie „in Bewegung“ geführt werden.
In Städten wie Zürich oder Basel gibt es bereits organisierte Spaziergruppen für Senior:innen, zum Beispiel unter dem Dach des Roten Kreuzes. Diese Treffen bringen Struktur, soziale Wärme und Bewegung in den Alltag – ein Trio, das gerade im Alter oft fehlt.
Wie man den Spaziergang sinnvoll gestaltet
Natürlich kann man „einfach loslaufen“. Doch mit ein paar kleinen Anpassungen wird aus dem Spaziergang eine tatsächlich therapeutische, achtsame und effektive Routine. Hier einige Anregungen:
- Tempo variieren: Studien zeigen, dass leicht zügiges Gehen effektiver ist als nur Schlendern. Faustregel: Man sollte noch sprechen, aber nicht singen können.
- Routen bewusst wählen: Parks, Wälder oder Seen bieten sensorische Reize. Das sorgt für zusätzlichen Entspannungseffekt. Wer hingegen in städtischen Gegenden unterwegs ist, kann interessante Architektur oder ruhige Seitenstraßen nutzen.
- Gehen mit Achtsamkeit kombinieren: Einfach mal das Handy in der Tasche lassen und bewusst Gerüche, Geräusche und visuelle Eindrücke wahrnehmen – das trainiert das Nervensystem und beruhigt.
- Regelmässigkeit vor Intensität: Lieber 5 x 20 Minuten pro Woche als einmal ein Gewaltmarsch über 2 Stunden – unser Körper reagiert besser auf Wiederholungen als auf Extremereignisse.
Gesunde Routine statt Zweitwahl
Gehen sollte nicht als „bessere als nichts“-Option wahrgenommen werden. Wer täglich geht, hat nachweislich bessere kardiovaskuläre Werte, ein stabileres psychisches Gleichgewicht und oft sogar eine höhere Lebenserwartung. Warum also nicht bewusst auf diese simple, aber wirkungsvolle Bewegung setzen?
Übrigens: In der Schweiz gibt es zahlreiche Arbeitgeber, die mittlerweile kurze Bewegungsfenster im Arbeitsalltag fördern. Das ist mehr als ein Trend – es ist eine Reaktion auf wissenschaftlich belegte Vorteile.
Wenn der Körper sich meldet – Warnzeichen ernst nehmen
Natürlich ist auch das Spazierengehen keine Allzweckwaffe. Menschen mit bestehenden Herzproblemen, orthopädischen Einschränkungen oder Atemwegserkrankungen sollten vor Beginn einer neuen Bewegungsroutine Rücksprache mit einer Fachperson halten. Anzeichen wie Brustschmerzen, Schwindel oder plötzliche Atemnot sind ernst zu nehmen. In meinem Arbeitsalltag habe ich leider öfter erlebt, dass genau solche Symptome ignoriert wurden – bis es kritisch wurde. Gehen soll fordern, aber nicht überfordern.
Gehen als Einstieg in einen gesünderen Lebensstil
Viele Menschen empfinden den ersten Schritt zu einem aktiveren Leben als grosse Hürde. Fitnessstudio? Zu teuer. Joggen? Zu anstrengend. Onlinekurs? Gerät schnell in Vergessenheit. Genau hier kann das Gehen ein niedrigschwelliger, erreichbarer Einstieg sein.
Ich rate häufig dazu, sich Gehen zunächst wie das Zähneputzen vorzustellen: keine Frage des Wollens, sondern eine einfache Routine. Vom Parkplatz zum Supermarkt, zur Bushaltestelle, zweimal um den Häuserblock vor dem Abendessen – all das zählt. Wer das schafft, hat bereits mehr für seine Gesundheit getan als 80 % der Bevölkerung.
Fazit durch die Erfahrung: Der stille Champion der Bewegung
Als jemand, der viele Menschen mit sehr unterschiedlichen gesundheitlichen Voraussetzungen begleitet hat, kann ich eines mit Überzeugung sagen: Der Unterschied zwischen denen, die sich zumindest ein wenig bewegen, und denen, die stagnieren, ist gravierend. Spazierengehen ist vielleicht keine spektakuläre Sportart – aber die Effekte sind spektakulär.
Vielleicht hilft es, das nächste Mal beim Blick aufs Handy oder den Fernseher kurz zu überlegen: Was würde ein 20-minütiger Spaziergang jetzt verändern? Die Antwort könnte mehr Lebensqualität sein. Und dafür braucht es weder Mitgliedskarte noch Sportoutfit – nur ein paar bequeme Schuhe und die Entscheidung, loszugehen.