Was bedeutet achtsames Essen eigentlich?
Der Begriff „achtsames Essen“ (englisch: Mindful Eating) wird häufig in Verbindung mit Ernährung und psychischem Wohlbefinden genannt. Doch was bedeutet das konkret? Achtsames Essen ist keine neue Diät oder ein kurzlebiger Trend, sondern eine Haltung gegenüber dem Essen: langsames, bewussteres Wahrnehmen dessen, was und wie wir essen.
Zentrales Element dabei ist die volle Präsenz im Moment – ohne Ablenkung durch Smartphone, Fernseher oder Gedankenkarussell. Man schenkt dem Geschmack, der Konsistenz, dem Geruch und dem Hungergefühl volle Aufmerksamkeit. Klingt banal? Ist es aber nicht. In meinem Arbeitsalltag als Pflegefachperson habe ich zu oft erlebt, wie Essen nebenbei und unter Stress zur Nebensache wird – mit Folgen für Verdauung, Stimmung und allgemeines Wohlbefinden.
Warum wir so oft „unachtsam“ essen
Viele Menschen essen heute nicht, weil sie hungrig sind, sondern weil es Zeit fürs Mittagessen ist, weil ihnen langweilig ist oder weil ein Stück Kuchen auf Instagram besonders lecker aussah. Die Reizüberflutung, permanente Erreichbarkeit und der Leistungsdruck führen dazu, dass Essen oft zur Nebentätigkeit wird – abgehandelt zwischen zwei Meetings oder auf dem Weg zur Arbeit.
Die Forschung zeigt: Je mehr Ablenkung beim Essen, desto weniger nehmen wir bewusst wahr, was wir zu uns nehmen (Higgs, 2017). Dadurch schätzen wir Mengen schlechter ein, essen über den Hunger hinaus und verlieren den Kontakt zu unseren natürlichen Körpersignalen.
Wie achtsames Essen dein Wohlbefinden fördern kann
Mehrere Studien belegen inzwischen klare Vorteile einer achtsamen Ernährungspraxis – sowohl körperlich als auch psychisch. Hier einige Wirkungen im Überblick:
- Reduktion von Stress: Achtsames Essen wirkt wie eine Mini-Meditation im Alltag. Es beruhigt das Nervensystem und reduziert Stresshormone wie Cortisol.
- Besseres Körpergefühl: Wer achtsam isst, erkennt früher, wann er satt ist oder was der Körper braucht.
- Verringerung von emotionalem Essen: Viele Menschen essen aus Frust, Wut oder Langeweile. Achtsamkeit hilft, diese Muster zu erkennen und besser damit umzugehen.
- Gesündere Entscheidungen: Wer bewusster isst, greift eher zu vollwertigen Lebensmitteln anstelle energiearmer Snacks.
- Verbesserte Verdauung: Das bewusste Kauen und langsamere Essen unterstützt enzymatische Prozesse und vermeidet Blähungen sowie Völlegefühle.
Wie fängt man mit achtsamem Essen an?
Viele meiner Patient:innen glauben, sie müssten dafür ihre komplette Ernährung umstellen oder sich stundenlang Zeit nehmen – das ist nicht der Fall. Achtsames Essen lässt sich in jeder Alltagssituation integrieren. Hier einige praktische Strategien:
Praktische Tipps für den Einstieg
- Technikfrei essen: Lege das Handy beiseite, schalte den Fernseher aus. Allein diese Maßnahme verbessert bereits die Esswahrnehmung enorm.
- Langsamer essen: Versuche bei jeder Mahlzeit wirklich zu kauen – und zwar so lange, bis du die Konsistenz bewusst wahrnehmen kannst. Mindestens 20–30 Mal pro Bissen.
- Kurze Atempause vor dem Essen: Halte vor der ersten Gabel einen Moment inne, atme tief ein und aus, schau dir dein Essen an. Wie riecht es? Wie sieht es aus? Allein das steigert die Vorfreude und aktiviert Parasympathikus – das „Ruhenervensystem“.
- Auf Körpersignale achten: Frage dich vor und während des Essens: Habe ich wirklich Hunger? Wie fühlt sich mein Magen an? Wie schmeckt das gerade?
- Tagebuch führen: Wer möchte, kann ein Ernährungstagebuch beginnen – aber nicht zur Kalorienzählung, sondern zur Reflexion: Was habe ich gegessen? Warum? Wie habe ich mich davor und danach gefühlt?
Fallbeispiel aus dem Pflegealltag
Ein Beispiel, das mir besonders im Gedächtnis geblieben ist: Eine Patientin, Mitte 40, jahrelange Stressesserin, stand am Beginn eines Burnouts. Sie berichtete, dass sie abends fast schon automatisiert zur Chipstüte griff – « einfach, weil es dazugehörte ». Erst nachdem wir mit einer achtsamen Essenspraxis begannen – zunächst nur bei einem Snack pro Tag – erlebte sie, wie unbewusst sie essen konnte. Sie probierte Alternativen, kaute bewusster, und stellte fest, dass ihr nach ein paar Wochen die Chips gar nicht mehr schmeckten. Die körperlichen und emotionalen Beschwerden (Verdauung, Schlaf, verstärkte Reizbarkeit) besserten sich spürbar.
Häufige Missverständnisse über achtsames Essen
Zum Abschluss einige Mythen, die mir in Gesprächen immer wieder begegnen:
- „Achtsames Essen heißt, dass ich weniger essen muss.“
Falsch. Ziel ist es nicht, möglichst wenig zu essen, sondern bewusster. Viele essen dadurch sogar nahrhafter – nach ihren tatsächlichen Bedürfnissen. - „Ich habe keine Zeit dafür.“
Niemand verlangt, dass jede Mahlzeit meditativ zelebriert wird. Schon kleine Veränderungen, wie ein bewusster Atemzug vor dem Frühstück, machen einen Unterschied. - „Das ist nur was für Esoteriker:innen.“
Auch wenn der Begriff gern in Achtsamkeitskreisen verwendet wird: Mindful Eating basiert auf wissenschaftlicher Forschung – unter anderem aus der Verhaltenspsychologie und Neurowissenschaft.
Was sagt die Forschung?
Eine systematische Übersicht im Journal of the Academy of Nutrition and Dietetics (Mason et al., 2016) zeigte, dass achtsames Essen mit einer erfolgreichen Gewichtsregulation, einem gesünderen Essverhalten und weniger Essanfällen korreliert. Hirnscans zeigen zudem, dass regelmäßige Achtsamkeitspraxis das Belohnungssystem im Gehirn moduliert – das bedeutet: Wir reagieren weniger impulsiv auf Essreize und entwickeln mehr Kontrolle über unser Verhalten.
Das passt auch zu meiner eigenen Erfahrung: Wer beginnt, achtsam zu essen, verändert nicht nur sein Verhältnis zum Essen, sondern oft auch zu sich selbst. Es entsteht mehr Selbstfürsorge – ein Faktor, der im hektischen Alltag häufig zu kurz kommt.
Wie lässt sich achtsames Essen im Familienalltag umsetzen?
Ein häufiger Einwand: „Mit Kindern klappt das nie!“ Tatsächlich kann man achtsames Essen auch spielerisch in den Familienalltag integrieren. Zum Beispiel durch
- gemeinsames Kochen und Vorbereiten (Wahrnehmung beginnt bereits in der Küche),
- eine „stille Minute“ vor dem Essen, in der jeder riecht und beschreibt, was auf dem Teller liegt,
- das Ermutigen von Kindern, ihre Sättigung selbst zu erspüren – statt „den Teller leer zu essen“.
Übrigens: Kinder sind intuitiv oft viel bessere achtsame Esser als Erwachsene. Es lohnt sich, von ihnen zu lernen.
Kleine Impulse mit grosser Wirkung
Es muss nicht perfekt sein. Und niemand isst bei jedem Bissen vollkommen achtsam – auch ich nicht. Entscheidend ist die Regelmässigkeit. Wer es schafft, bei einer von drei täglichen Mahlzeiten bewusst präsent zu sein, wird Veränderungen bemerken. Besseres Bauchgefühl. Mehr Genuss. Weniger schlechtes Gewissen.
Achtsames Essen ist ein Werkzeug – kein Dogma. Es soll nicht einengen, sondern erleichtern. Wer sich darauf einlässt, findet nicht nur zu einem gesünderen Essverhalten zurück, sondern auch zu mehr Lebensqualität im Alltag.
Mein Tipp zum Schluss: Starte klein. Vielleicht mit einem Apfel. Kein Podcast, kein Bildschirm – einfach nur du und der Apfel. Schmeckst du die Säure? Spürst du, wie sich die Textur beim Kauen verändert? Dann bist du bereits auf dem Weg.